Sie war ihm einfach zugeflogen. Eigentlich war er ein Einzelgänger. Aber sie hatten ähnliche Hobbies. Die Taube störte sich nicht an seiner Unordnung, dem Rauch und seiner Lebensweise. Sie baute sich ein Nest in der Ecke des Sofas. Außerdem war sie eine gute Zuhörerin. Sie verschlief wie er den halben Tag und sah mit ihm fern. Sie lehnte sich an seine Schulter und gurrte ihm ins Ohr. Es war doch ganz schön zu zweit. Er hatte sich an sie gewöhnt und sie lieb gewonnen, auch wenn sie nichts zum Haushalt beitrug und ab und zu auf den Teppich im Flur schiss. Nur die Sache mit dem Alkohol. Alkohol hatte sie auch bald lieb gewonnen. Am Anfang nur ein paar Schlucke. Das kleine zarte Ding. Sie vertrug doch nichts. Aber das legte sich schnell. Bald trank jeder sein Bier. Ein, zwei, später fünf Flaschen. Nachdem sie Schnaps für sich entdeckte, verweigerte sie außerdem normales Essen. Nicht einmal füttern durfte er sie mehr. Sie wurde immer dünner, trank ihm die Vorräte weg und verhielt sich merkwürdig. Er hätte sie gern ins Krankenhaus gebracht. Aber er hatte kein Geld, keiner wusste dass sie bei ihm wohnte und versichert war sie natürlich auch nicht. Es kam wie es kommen musste. Er rief den Notarzt, als er morgens bemerkte, dass sie nicht mehr atmete, starr und kalt war. Sie war an Alkoholvergiftung gestorben. Hatte seine letzten Reserven gefunden und nicht mit ihm geteilt. Er war anfangs zu sauer um traurig zu sein. Wie im Nebel beantwortete er die Fragen der Kriminalpolizei.“ Wie hieß diese Frau?“ – „Taube, Frau Taube!“
Autor: Enna Miau
digitale Bildkunst: Ina Bär